Einigkeit und Recht und (Wissenschafts-)Freiheit

Warum sie mehr ist als nur ein Satz auf dem Papier

„Fördergeld-Affäre im Bildungsministerium“: Diese oder ähnliche Überschriften strahlten uns in der letzten Zeit häufiger gleich einer Warnblinkleuchte aus der Presse entgegen. Zu Recht machte sich bei Kenntnis der oben genannten Situation Entsetzen breit. Hintergrund war eine E-Mail aus dem Bildungsministerium, in der wohl der Auftrag gegeben wurde, die unterzeichnenden Hochschullehrenden eines offenen Briefes, der die Räumung einer Besetzung der FU Berlin durch propalästinensische Studierende kritisierte, daraufhin zu überprüfen, ob sie Zuwendungsempfänger des Bildungsministeriums seien und mutmaßlich gegebenenfalls die Förderung zu kürzen. Dies würde effektiv das Ende der wissenschaftlichen Karriere bedeuten. Dies ist nicht nur in beruflicher Hinsicht fatal, sondern auch in Bezug auf die Protagonistin dieser Kolumne der Wissenschafts- bzw. der Forschungsfreiheit. Denn Wissenschaft kann nur effektiv betrieben werden, wenn die notwendigen Mittel vorhanden sind. Dass aber die Wissenschaftsfreiheit nicht nur ein Recht auf dem Papier ist, sondern auch ganz praktische Auswirkungen auf die alltägliche Arbeit hat, schauen wir uns im Folgenden genauer an.

Woher kommt die Forschungsfreiheit?

Will man den gesamten Werdegang der akademischen Freiheit betrachten, müsste man bis in die Antike zurückblättern. Denn der Begriff und damit verbunden das Konzept einer akademischen Freiheit geht bereits auf die Platonische Akademie zurück. Da diese Kolumne aber vor allem von praktischem Nutzen sein soll, dies nur als kleiner „Fun Fact“ an Rande.
Relevanter für die Gegenwart wird es dann am 31.07.1919 durch die in Weimar beschlossene Reichsverfassung. Plakativ schrieb diese in ihrem Artikel 142 vor: „Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei.“ Dies galt bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933. Nach deren Schreckensherrschaft – die auch demonstrierte, was passiert, wenn Wissenschaft eben nicht frei ist – fand die Wissenschaftsfreiheit erneut Einzug ins nun in Kraft getretene Grundgesetz – und zwar in Artikel 5 Absatz 3. Die Wortwahl ist dabei identisch mit Artikel 142 der Weimarer Reichsverfassung. Aber sie ist nicht nur identisch, sondern auch enigmatisch, wenn es darum geht, welche Wirkungen eine freie Wissenschaft und Forschung haben.

Exkurs: Wie funktionieren Grundrechte?

Um zu verstehen, wie sich die Wissenschaftsfreiheit auf den Alltag der Forschenden auswirkt, muss zunächst klargestellt werden, was Grundrechte überhaupt sind. Grundrechte sind unmittelbar geltendes Recht. Das bedeutet, dass sich Bürger*innen gegenüber der Verwaltung, den Gerichten und anderen Hoheitsträgern des Staates auf sie berufen können. Sie müssen ebenfalls bei Entscheidungen von Hoheitsträgern, die Bürger*innen betreffen, berücksichtigt werden.
Grundrechte wirken sowohl als subjektiv-rechtliches Abwehrrecht gegenüber dem Staat, gleichzeitig auch objektiv-rechtlich in Gestalt von staatlichen Gewährleistungspflichten und Handlungsaufträgen.
Ist beispielsweise eine Person einer Straftat verdächtig und die Polizei möchte sie in Untersuchungshaft nehmen, wird hierdurch in ihr Recht auf Freiheit nach Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 104 Grundgesetz eingegriffen. Dies ist nicht ohne weiteres möglich. Es muss zuvor geprüft werden, ob ein derartiger Eingriff aufgrund hochrangiger anderer Interessen und Rechte ausnahmsweise gerechtfertigt und die Person in Untersuchungshaft genommen werden kann. Stellt sich hinterher heraus, dass der Eingriff in das Grundrecht der Person durch die Anordnung der Untersuchungshaft nicht gerechtfertigt war, hat die Person auch einen Anspruch auf Wiedergutmachung.

Was macht die Forschungsfreiheit im Speziellen?

Wie auch andere Grundrechte, setzt sich die Forschungs- und Wissenschaftsfreiheit aus einem subjektiven Abwehrrecht der Betroffenen und gleichzeitig der objektiven Verpflichtung des Staates, für funktionsfähige Institutionen eines freien Wissenschaftsbetriebs und eine möglichst freie wissenschaftliche Betätigung zu sorgen, zusammen.
Nun bringt uns jedoch die Frage nach dem Charakter des Grundrechts nicht weiter, wenn nicht geklärt ist, was dessen inhaltlicher Rahmen ist. Um unser Bundesverfassungsgericht zu zitieren, ist Wissenschaft jede Tätigkeit, „die nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist“, wobei „Wissenschaft“ der gemeinsame Oberbegriff von Forschung und Lehre ist.
Wer sich bereits mit der Geschichte der Wissenschaft auseinandergesetzt hat, wird wissen, dass sich diese im Laufe der Jahre stets wandelt, sowohl, was Methoden, als auch Erkenntnisse angeht. Das ist die Natur der Sache der Wahrheitsermittlung. Dies ist auch dem Gesetzgeber bekannt, weshalb der Begriff offen und wandelbar ist. Deshalb sind prinzipiell auch solche Forschungsansätze und -ergebnisse geschützt, die sich im Nachhinein als unbrauchbar oder irrig herausstellen. Sogar unorthodoxe Methoden sind vom Schutzbereich umfasst.

Die Forschungsfreiheit wiederum umfasst alle Stadien der Forschung: von der Erstellung der Fragestellung über die Methodik bis zur Bewertung und Verbreitung des Forschungsergebnisses.
Der Schutz gilt darüber hinaus nicht nur für die eigentlichen oben genannten Forschungsarbeiten, sondern auch für Vor- und Nachbereitungsarbeiten sowie organisatorische Hilfsarbeiten. Kurzum: alle wissenschaftlichen Tätigkeiten, die eigenverantwortlich durchgeführt werden und in direktem Zusammenhang mit den Forschungsarbeiten an sich stehen. Dazu gehören auch Ermittlungen zum Stand der Forschung, Materialsammlung, Mitteleinwerbung, etc., was uns wiederum zum geschilderten Fall in der Einleitung bringt.

Nicht zuletzt explizit durch das Bundesverfassungsgericht hervorgehoben, betrifft die Forschungsfreiheit auch die Vertraulichkeit der Daten als Bestandteil der Prozesse und Verhaltensweisen bei der Suche nach Erkenntnissen (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Downloads/DE/2023/09/rk20230925_1bvr221920.pdf?__blob=publicationFile&v=1 ).

Was bringt mir das in der Praxis? Ein Beispiel: Der Schutz der Vertraulichkeit

Das eben Geschilderte zeigt, was ich aufgrund der Wissenschaftsfreiheit alles potenziell tun kann. Es kann und wird aber passieren, dass ich in der Ausübung meiner durch das Grundgesetz gegebenen Rechte Andere in der Ausübung ihrer Rechte störe. Um ein Ausufern dessen zu vermeiden, hat das Grundgesetz den Grundrechten jeweils Schranken auferlegt, nach deren Voraussetzungen die Grundrechte eingeschränkt werden dürfen. Wie hoch die Hürden für die Einschränkungen sind, ergibt sich aus dem jeweiligen Grundrecht selbst.

Danach gibt es Grundrechte, die bereits durch oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden dürfen. Man nehme als Beispiel dafür die Versammlungsfreiheit aus Artikel 8 Grundgesetz: Danach dürfen sich alle friedlich versammeln. Diese Versammlungsfreiheit kann aber durch oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden, wenn die Versammlung unter freiem Himmel stattfindet. Genau diese Einschränkung findet durch das Versammlungsgesetz statt.

Im Unterschied dazu gibt es aber auch Grundrechte, denen der Gesetzgeber einen so hohen Rang zugeschrieben hat, dass er sie an sich vorbehaltlos gewährleistet. Dazu gehört die Wissenschaftsfreiheit nach Artikel 5 Absatz 3.

Das bedeutet aber nicht, dass eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit überhaupt nicht möglich ist – schließlich gibt es mehrere an sich vorbehaltlose Grundrechte, die unter Umständen einander gegenüberstehen können. Eine Einschränkung kann aber nur erfolgen, wenn andere Rechte von Verfassungsrang beeinträchtigt sind und bei einer Abwägung der beiden Rechte und der damit verbundenen Interessen das andere beeinträchtigte Recht „gewinnt“.

Als Beispiel kann auch hier der oben genannte Fall vor dem Bundesverfassungsgericht dienen: Dort wollte der Staat an vertraulich erhobene Daten von Probanden einer kriminologischen Studie, die potenziell Mitglied einer terroristischen Vereinigung waren. Hier stand also das Interesse und die Pflicht des Staates, eine funktionsfähige Strafrechtspflege zu leisten, dem Interesse, effektiv forschen zu können, gegenüber. Diese beiden Interessen galt es gegeneinander abzuwägen. Dabei kommt der Wissenschaftsfreiheit umso höheres Gewicht zu, je stärker das konkrete Forschungsvorhaben und bestimmte Forschungsbereiche auf die Vertraulichkeit der Datenerhebung und -verarbeitung angewiesen sind.

In dem geschilderten Fall ist der Umstand, dass die Vertraulichkeit der Daten einen höchst forschungsrelevanter Faktor darstellt, evident.
Aber auch in der Agrarforschung werden häufig sensible Daten erhoben. Denken wir nur an die Erforschung von Pestizidbelastung der Ackerböden bestimmter Landwirte. Diese werden ihre Daten diesbezüglich wohl nicht herausgeben, wenn ihnen nicht garantiert wird, diese Informationen vertraulich zu behandeln.
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts hilft hier beiden Seiten: Er kann den Forschenden gegenüber potenziellen Proband*innen als Argumentationsgrundlage dienen. Gleichzeitig gibt er den Forschenden selbst Sicherheit, dass ihre Forschungsergebnisse nicht einfach durch Staatsgewalt offengelegt und somit gefährdet werden können.

Lea Singson, FAIRagro Helpdesk (FZI Karlsruhe)

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